Wenn man durch die Gassen der Marrakesch’er Altstadt
schlendert, wie im letzten Beitrag beschrieben, übermannen einem die
unterschiedlichsten und bizarrsten Gefühle. Zum einen, zum ersten und zum
extremsten ist man ‘überwältigt’… und dies aus so vielen Gründen. Alles bewegt
sich, alles ist farbig und verziert. Die meisten Gebäude wirken baufällig oder
sind nur noch halb vorhanden. Unglaubliche viele Menschen bevölkern die
Strassen, die meisten gehen keiner Arbeit nach und versuchen den Tag
totzuschlagen oder durch kleine Gefälligkeiten Geld zu verdienen. So wird uns
innert weniger Sekunden mehrmals der Weg zu Orten gewiesen, an welche wir nicht
hinwollten und somit auch ohne, dass wir gefragt hätten. Oder man bekommt
unaufgefordert eine Schuh- oder Autoreinigung oder wird aus Parkplätzen
gewiesen, aus denen man problemlos auch ohne Hilfe rausfahren kann. So gibt man
diesen Menschen ein paar Dirham. Eine Kleinigkeit für uns. Für sie nicht. Sie
sind allerdings nicht wütend, wenn man sie nicht dafür bezahlt, sie wirken eher
enttäuscht- was definitiv eine noch stärkere Wirkung bei uns hinterlässt. Trauer
übermannt einem immer wieder ob der falschen Verhältnisse unserer Zeit. Es ist
nicht selten auch unangenehm, dauernd Trinkgeld zu geben, denn diese Leute
verhalten sich in diesen Situationen meist unterwürfig… und das will ich nicht.
Das macht mich wütend. Nicht auf diese Menschen, sondern schlicht auf die
Tatsache, dass Geld Hemmungen und Grenzen schafft.

Leben in Marokko ist für den Grossteil der Bevölkerung
gleichbedeutend mit einem Überlebenskampf, welchen wir in der Schweiz so nicht
kennen. So schleicht sich dann auch Mitgefühl in diesen absurden Mix aus
gegensätzlichen Empfindungen. Mitgefühl und Verständnis für diese tollen und freundlichen
Menschen, welche einen zwar einzeln absolut nicht bedrängen, in ihrer Masse
aber äusserst penetrant in Anspruch nehmen. Dieses Verständnis entwickelt man
gerade in Marrakesch sehr schnell, da man unmittelbar nach dem Verlassen des
Flughafens mit dieser Armut in Berührung kommt und gleichzeitig sehr viel nicht-materieller Reichtum wahrnimmt. Ebenso entwickelt sich
aber auch unglaublich viel Achtung vor diesen Menschen, welche nicht selten
trotzdem eine unbändige Energie ausstrahlen und diesen Kampf tagtäglich
aufnehmen und ihn vielleicht nicht einmal als solchen empfinden. Zuletzt zeigt
sich die Freude, denn man hat eigentlich nie das Gefühl, dass die
Marokkaner/innen diesen Kampf jeweils alleine bestreiten. Es wirkt wie die
Ordnung im Chaos. Wie Reichtum in der Armut. Man hilft sich gegenseitig. Es
wirkt wie eine riesengrosse Familie. Selbst die unzähligen streunenden Katzen
und Hunde gehören irgendwie zur Gemeinschaft, werden in Ruhe gelassen oder gar
gefüttert. So ist es nichts spezielles, wenn eine verschleierte Mutter mit ihrem
Kind auf einer Bank sitzt und wenige Zentimeter weiter, auf der selben Bank, eine
zerzauste Katze ihr Junges säubert. Marrakesch scheint eins zu sein. Toleranz und Verständnis in der Armut, Geduld
im Chaos.

Für die meisten Touristen ist die Wahrnehmung der Stadt aber
eine total andere. Was wohl für fast alle Einwohner unerschwinglich ist, ist
für uns ein wahres Abenteuer. Hinter jeder Tür kann sich eine prachtvolle Oase
verstecken. So läuft man, während sich der Hunger meldet, durch eine schmuddelige
Gasse und sieht eine verlotterte, grüne Türe mit der kaum lesbaren Aufschrift «café
et restaurante». Wir entscheiden, zuerst einmal einen Blick reinzuwerfen, bevor
wir es wagen, dort unseren Hunger zu stillen. Na ja, sieht ganz ok aus. Kaum drinnen, führt uns der Kellner aber
in den hinteren Teil der Lokalität und wir trauen unseren Augen kaum. Ein
wahres Paradies. Einige Palmen, kleine Brunnen, tolle Tische und Stühle, sanfte
arabische Musik im Hintergrund und dies alles Sonnendurchflutet. Die Preise
sind für unsere Verhältnisse erstaunlich tief. Für zwei Getränke, ein
Mittagessen und ein Eis haben wir 190 Dirham bezahlt (ca. 17 Euro). Es kann
aber auch passieren, dass man plötzlich in einem «Restaurant» sitzt, das sich
im ersten Stock eines Wohnhauses befindet und eher an ein Wohnzimmer erinnert
und gerade einmal drei kleinen Tischen Platz bietet (welche meist von Touristen
besetzt sind) und eine tolle Atmosphäre bietet. Ab und zu schaut die «Dame des
Hauses vorbei» und versichert sich, ob auch alles gut schmeckt, während ihr
Sohn am Tisch nebenan das Baby eines Gastes unterhält. Die Preise sind in etwa
immer die gleichen. Oder man besucht eine faszinierende Foto- Ausstellung,
welche einem für 40 Dirham offensteht. Total überrascht befindet sich am Ende
der Ausstellung auf dem Dach dieser Galerie ein kleines Café mit einem atemberaubenden
Ausblick auf die Stadt. Diese Erlebnisse beflügeln die Wahrnehmung dieser
tollen Stadt immer wieder aufs Neue. Man sollte sich aber auch bewusst sein,
dass diese Erlebniswunder für die Einwohner Marokkos, deren durchschnittliches
Einkommen bei 110 Dirham pro Woche liegt, verborgen bleiben.
Marrakesch ist irgendwie eine eigene Welt. Voller Magie und Überraschungen.
Sie öffnet Tür und Tor zu so viel Atemberaubendem, zu so vielen Abenteuern und
zu allen orientalischen Zaubern aus tausend und einer Nacht… zu für uns
günstigen Preisen… und wenn man nicht immer genau hinschaut. Doch dazu mehr am
Ende unserer Reise. Der nächste Bericht folgt aus Essaouira!
Auf Bald!